ExpertInnengespräch: Gewalt im Denken – Gewalt im Handeln

05. Dezember 2018 / 18:00 Uhr / Planet 10, Pernerstorferg. 12, 1100 Wien

Gewalt im Denken – Gewalt im Handeln
Wissenschaft und Fürsorgeerziehung in der Stadt Wien

Reinhard Sieder stellt seine jüngsten Forschungsergebnisse zur Wiener Kinder- und Jugendfürsorge vor. Rassenanthropologische und menschenökonomische Theorien bilden am Beginn des 20. Jahrhunderts den Hintergrund für die Forderung nach Produktivität in der Sozial-, Gesundheits- und Fürsorgepolitik. Dies wirft viele Fragen auf: Was daran ermöglichte eine notorisch gewalttätige Anstaltserziehung. Hätte es dazu eine Alternative gegeben? Wie wurde dieses System für die Tötungsprogramme („Euthanasie“) des NS-Regimes eingesetzt? Wie konnten sich Vorstellungen von einer schuldhaften Verwahrlosung armer Eltern und Kinder bis in die 1970er Jahre halten? Am Ende steht um 2000 die radikale Selbstkorrektur der Wiener Fürsorgepolitik, die durch die Einsicht in die hohen Folgekosten ei- ner rassistischen Fürsorgeerziehung angetrieben wird.

Abstract

Alsergrund, Julius-Tandler-Heim, © Bwag/Wikimedia

Die Wiener Kinder- und Jugendfürsorge arbeitet seit ihren Anfängen um 1912/13 mit Instituten und Kapazitäten der Psychiatrie, der (medizinischen) Heilpädagogik, der Kinderheilkunde, der Psychologie und der Pädagogik zusammen. Diese Wissenschaften erdenkenFormen und Ursachen von leiblichen, geistigen und „seelischen“ Krankheiten und definieren das „normale“ und das „abnormale“,das „erziehbare“ und das „nicht erziehbare Kind“. Sie erheben moralische, pastorale und alltägliche Begriffe wie „Schuld“ und „Verwahrlosung“ in den Rang von Kategorien, die fortan alle Erziehungsarbeit in Anstalten regulieren und legitimieren. All dies rahmt eine Meta-Theorie von der rassenbiologischen Degeneration. Auf genetischem Weg pflanze sich das „minderwertige Leben“ stärker fortals das wertvolle, was zum Verfall des „Volkskörpers“ führe und rechtzeitig diagnostiziert, aussortiert, interniert oder vernichtet werdenmüsse. Von 1895 bis 1945 – also ein halbes Jahrhundert lang – erhält dieses Denken im Meta-Diskurs der Rassenhygiene offizielle und staatliche Legitimation. Nach Bekanntwerden der damit legitimierten Verbrechen im Dritten Reich bleibt das rassenhygienischeDenken dennoch heimlich und verborgen hinter neuen Begriffen weiter in Kraft. Mindestens bis in die 1970er Jahre legitimiert es die Gewalt-Praktiken in Erziehungsheimen, in Heimen für körperlich oder geistig Behinderte, in der Geriatrie und im Strafvollzug. Erste Reformen unter Justizminister Christian Broda betreffen den Strafvollzug und die staatliche Erziehungsanstalt in Kaiserebersdorf, nicht aber die Erziehungsheime der katholischen und der evangelischen Kirche und auch noch nicht jene der Stadt Wien.

Im zweiten Teil des Vortrags wird gefragt, wie sich die Vorstellung von einem „minderwertigen“ Leben auf den Umgang mit den Kindern der Armen in der Kinder- und Jugendfürsorge im Lauf des 20. Jahrhunderts niederschlägt. Wie sehr bestimmt diese Vorstellungdie Arbeit der Fürsorgerinnen, der heilpädagogischen Ärzte und der Erzieher*innen und Heimleiter*innen, der Polizisten und Richter, der frühen Kinder- und Jugendpsychologie (um Charlotte Bühler) oder die diagnostische und bürokratische Arbeit der viel gerühmten Kinderübernahmsstelle? Untersuchungen zeigen, dass die Internierung und die „totale Erziehung“ von Kindern und Jugendlichen in Erziehungsheimen und die auf sie ausgeübte Gewalt und Tortur auf die Idee der schuldhaften Verwahrlosung von Eltern und Kindern zurückgehen. Auch im sozialdemokratischen „Roten Wien“ der 1920er und frühen 1930er Jahre hält sich die archaische Figur von Schuld und leiblicher (peinlicher) Strafe. Sie begünstigt und legitimiert die Grausamkeiten der Zwangserziehung. Eine ab 1971 begonnene innere Reform der städtischen Heimerziehung scheitert; systeminterne Reformen ändern wenig an der praktizierten Gewalt. Um 2000werden deshalb die KÜSt und die meisten Heime geschlossen und durch ein Netzwerk von betreuten Wohngemeinschaften ersetzt. Eine erstaunlich radikale Selbstkorrektur der Wiener Fürsorgepolitik, die durch die Einsicht in die hohen Folgekosten einer rassistischen Fürsorgeerziehung angetrieben wird.

Reinhard Sieder

Univ.-Prof. i.R.
Freier Autor, Vortragender und bildender Künstler
Web: http://www.reinhard-sieder.at

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